Welche Konsequenzen soll und muss es für das deutsche Bildungssystem haben, wenn PISA-2000 herausfindet, dass erstens die soziale Herkunft in Deutschland wie in keinem vergleichbaren Land so sehr über den Bildungserfolg entscheidet und zweitens Kinder von Migranten wesentlich schlechter gefördert werden als in anderen Industriestaaten mit ähnlichem Migrantenanteil?
Im Zusammenhang mit der bildungspolitischen Debatte über die Ergebnisse der PISA-Studie haben zwei Repräsentanten der deutschen Politik richtungsweisende Feststellungen gemacht bzw. Forderungen aufgestellt:
- Bundeskanzler Gerhard Schröder fordert eine Schule für die Einwanderungsgesellschaft und konstatiert: Zu lange haben sich Politik und Gesellschaft geweigert, dass die Bundesrepublik ein faktisches Einwanderungsland ist. Wen also kann es wundern, dass sich das deutsche Schulsystem zu wenig um die Kinder der Migranten kümmert?. (Die Zeit, 27/2002)·
- Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Dagmar Schipanski, hält es für nicht hinnehmbar, dass jedes vierte Kind beim Schuleintritt auf der Ebene der Sprachkompetenz Probleme hat – was keineswegs nur für Ausländerkinder gilt. Sie schreibt: Besonders benachteiligt sind Kinder, deren Eltern nicht oder nur wenig deutsch sprechen. Ohne eine gezielte Sprachförderung – die bereits im Vorschulalter beginnt – haben sie keine faire Chance auf einen Erfolg in der Schule.(Die Zeit, 28/2002)
Am 20.06.2002 veröffentlichte Wolf Lepenies in der SZ einen Artikel mit dem Titel Der wahre Pisa-Skandal und hielt fest: Der Skandal der Pisa-Studie liegt nicht in den Differenzen der schulischen Leistungen, die zwischen Wanne-Eickel und Straubing sichtbar werden. Skandalös ist es, dass Deutschland in der engen Korrelation von Klassenlage und Bildungschancen unangefochten einen Spitzenplatz einnimmt.
Mit zwei Angaben aus der internationalen PISA-Studie wird das Problem klarer: …die Chance für einen Jugendlichen aus dem Haushalt eines ungelernten Arbeiters, mit 15 Jahren eine Hauptschule zu besuchen, um 50 Prozent größer als die seines Alterskameraden aus einer Facharbeiterfamilie… Setzt man die beiden Beteiligungschancen zueinander ins Verhältnis, sieht man, dass die Chancen des Gymnasialbesuchs für den Jugendlichen aus der Familie der oberen Dienstklasse 5,7-mal so hoch sind wie die Beteiligungschancen des Jugendlichen aus einem Arbeiterhaushalt( Pisa 2000, S.356 und 357).
Dieser Skandal betrifft offensichtlich in erster Linie die Migrantenbevölkerung, weil die Zahl der als un- oder angelernte Arbeiter beschäftigten Männer und Frauen sehr hoch ist und deshalb sich die Frage nach der Zukunft der Kinder nichtdeutscher Herkunft dringend stellt.
Bildungsbeteiligung und Bildungserfolg
Anhand offizieller Schuldaten kann man zeigen, dass Migrantenkinder im Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich die Bildungspyramide unterschichtet haben (Radtke/Bommes). Folgende Zahlen veranschaulichen die Bildungssituation von Migrantenkindern im allgemeinen und die der Jugendlichen türkischer Herkunft im besonderen:
- Mit 19 Jahren besuchen 14,1 % der ausländischen Jugendlichen allgemeinbildende Schulen, während es bei den deutschen Jugendlichen 31,1 % sind. (ZfP., 1998 / 44.Jg. S. 708)
- Jugendliche aus Migrantenfamilien werden in früheren Lebensaltern arbeitslos, 2,9% der 16jährigen, der Anteil der deutschen Jugendlichen liegt bei 0%
- Der Anteil der nicht erwerbstätigen 18jährigen bei den Jugendlichen aus Migrantenfamilien beträgt 9,6%, währen der entsprechende Anteil bei den deutschen Jugendlichen 3,1% umfaßt.
- Die Verteilung der türkischen Schüler auf die Schultypen sah im Jahre 1997 so aus: Hauptschulen 51,1% ; Realschulen 17,7% ; Integrierte Gesamtschule 18,2% und Gymnasium 13,0% .(n.Ursula Boos-Nünning, 1998, KMK Nr.143 Statistisches Bundesamt 1998)
In der Fachliteratur werden bisher eine Vielzahl von Ursachen und Gründen genannt, die den niedrigen Bildungserfolg der ausländischen Jugendlichen erklären sollen. Hier sind drei zu nennen:
- Einige Autoren führen den im Vergleich zu deutschen Kindern geringeren Schulerfolg von Migrantenkindern auf kulturspezifische Werte und Verhalternsweisen von Migrantenfamilien zurück;
- Nach Auffassung einiger anderer Autoren stehen dem Schulerfolg der Kinder nicht kulturspezifische, sondern schichtspezifische Werte und Verhaltensweisen entgegen;
- Erst die empirische Bildungsforschung machte die unangenehme Seite der Schule zu ihrem Gegenstand. Die Einseitigkeit der ausländer- und schulpädagogisch orientierten Bearbeitung der Migrationsfrage wurde kritisiert; als auf die reale Möglichkeit aufmerksam gemacht wurde, dass die Schulen in der Wahrnehmung ihres Selektionsauftrags Migrantenkinder mit den wenigsten und niedrigsten Abschlüssen entlassen.
Die Frage nach den Ursachen für die Bildungsbeteiligung und den Bildungserfolg wird vor dem Hintergrund der Studien der letzten Jahre neu gestellt und beantwortet werden müssen. Was bedeutet es für die bildungspolitische Diskussion, wenn eine Untersuchung der Berliner Humboldt-Universität unter 13 000 Kindern in Hamburg zur Schlussfolgerung gelangt, dass die Lehrer die Kinder aus weniger gebildeten Elternhäusern unabhängig von Testergebnissen einfach schlechter beurteilten? (Elisabeth Niejahr, in: Die Zeit, 20/2002)
Familie und Schule in neuer Perspektive
Angesichts aller neuen Erkenntnisse ist es höchste Zeit, dass wir unseren Blick auf die Migrantenfamilie und auf die Schule schärfen, und einseitige/reduktionistische Vorstellungen überwinden!
Wenn in PISA-2000 die Autoren wie Ditton, Lehmann, Peek und Gänsfuß zitiert werden, die zeigen konnten, dass Kinder unterer Sozialschichten bei gleicher Schulleistung seltener als Kinder aus privilegierten Elternhäusern eine Gymnasialempfehlung erhielten (S. 353 ) oder wenn es dort später unter Bezugnahme auf mehrere Autoren (Groeben 1988 / Oerter 1999 / Schneider 1989) die Feststellung steht: Für die Entwicklung grundlegender Lesekompetenz besitzt zweifellos die Grundschule eine Schlüsselstellung. Dennoch hat auf die Schnelligkeit, Güte und Sicherheit des Schriftspracherwerbs auch der Anregungsreichtum des häuslichen Milieus einen erheblichen Einfluß.dann sollte man konsequent die Frage stellen, wie die Ressourcen der unteren Sozialschichten, zu denen die große Mehrheit der Migrantenfamilien zu rechnen ist, erweitert werden können.
Auf der Suche nach einer Antwort sollte man sich von der Erkenntnis leiten lassen, dass die Handlungsmöglichkeiten der Migrantenfamilien gering sind und unter den Bedingungen der Marginalisierung und der als Reaktion darauf erfolgten Segregation selbst vorhandene Ressourcen nicht ohne weiteres zur Geltung kommen.
In diesem Zusammenhang geht auch der Sechste Familienbericht der Bundesregierung aus Oktober 2000 ausführlich auf die Situation der Migrantenfamilien ein und hält fest: „In den Mehrkinderfamilien müssen die geringen materiellen und zeitlichen Ressourcen auf eine hohe Anzahl von Kindern verteilt werden. Beengte Wohnverhältnisse erschweren die psycho-physische Entwicklung der Kinder und die Erledigung von Schulaufgaben“. (Sechster Familienbericht, Deutscher Bundestag / 14.Wahlperiode, S.171)
Der Familienbericht begnügt sich nicht damit, auf die der Migrantenfamilien zur Verfügung stehenden geringen materiellen, kulturellen, sozialen Ressourcen und ihre Platzierungsstrategien hinzuweisen, sondern geht einen Schritt weiter und behandelt das Verhältnis zwischen Schule und Familie ganz offen. Dass es in der Beziehung der Familien zu den Bildungsinstitutionen das Eltern-Lehrkräfte-Verhältnis meist mit Spannungen, Konflikten und Vorurteilen belastet ist, wird festgestellt, was inzwischen fast alle wissen, was aber bei diesem Bericht auffällt, ist die Eindeutigkeit und Ausgewogenheit, wenn es über die bestehenden Probleme dort steht: „Die Eltern-Lehrkräfte-Gespräche scheitern häufig an der sozio-ökonomischen, kulturellen und sprachlichen Distanz, die Kommunikation wird sogar häufig aus Angst und Unsicherheit vermieden“.
Dabei wird das Problem nicht nur bei den Eltern gesehen, sondern das Verhalten der Lehrer und Lehrerinnen kritisch angesprochen. Es heißt dort weiter: „Die Lehrkräfte konzentrieren sich eher auf ihre fachwissenschaftliche Qualifikation und verfügen selten über fundierte pädagogisch-psychologische Kenntnisse und Kompetenzen in der interkulturellen Kommunikation.“ (171)
Auf der folgenden Seite steht folgende Problemdefinition: „Lehrkräfte begegnen ausländischen Kinder häufig mit einem „heimlichen Lehrplan“, in dem Annahmen über Fähigkeiten und Defizite sich nicht nur wie bei den einheimischen Kindern etwa nach Schichtzugehörigkeit und Geschlecht, sondern auch nach nationaler bzw.ethnischer Herkunft richten.“ (S.172)
Auf der Grundlage all dieser Festsstellungen und Erkenntnisse scheint dringend notwendig zu sein, erstens eine konsequente Sozialpolitik zu entwerfen, die das Ziel hat, die materiellen, kulturellen, sozialen Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten der Migrantenfamilien zu erweitern und zweitens eine neue Bildungspolitik zu konzipieren, die die Bikulturalität und Bilingualität der Migrantenkinder als Chance begreift und die herrschende defizitäre Betrachtung überwindet.
Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung hat mit sieben Thesen zur Diskussion über die PISA-Studie beigetragen. Das sind:
- Förderung statt Selektion
- Förderung im Kindergarten
- Verbesserung der individuellen Förderung an Grundschulen
- Qualifikation des Personals
- Ausbau von Ganztagsschulen
- Qualität statt „bussing“
- Bildungsinvestitionen zahlen sich aus
Angesichts der auch vom Familienbericht angesprochenen Probleme im Verhältnis zwischen Elternhaus und Schule brauchen wir pädagogisch kompetente Vermittlungsinstanzen, die in das Spannungsfeld offensiv hineinagieren und Klärungs- und Verständigungsarbeit leisten, die aber nicht darauf warten, dass die Eltern oder Lehrer zu ihnen kommen. Die Vernetzung von Schule und Elternhaus ist ein Gebot der Stunde; die Schule zu einem Begegnungs – und Kommunikationsort für Eltern und Lehrer zu entwickeln, wird sicherlich viele alltäglichen Probleme leichter klären lassen und zur Entstehung vieler Gemeinsamkeiten führen.