Armut bzw. Armutsrisiken definiert man allgemein nach dem Lebenslagenbegriff als soziostrukturelle Benachteiligung in zentralen Lebensbereichen vor allem in bezug auf Einkommen, Arbeit, Wohnen, Gesundheit, Bildung, politische und kulturelle Teilhabe und Durchsetzungsvermögen in der Mehrheitsgesellschaft. Dabei überlagern sich die materiellen Benachteiligungen. Sie werden außerdem von strukturellen Diskriminierungen und Ausgrenzungen begleitet und dadurch verschärft. Arme Menschen sind aufgrund ihrer gesamten Lebenslage von den normalen Lebensvollzügen der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt.
Nach Angaben der Bundesregierung ist die Armut in Deutschland in den vergangenen Jahren gestiegen. Das belegt der Zweite Armuts- und Reichtumsbericht“.
Ferner dokumentiert eine Unicef-Studie, dass in den letzten Jahren die Anzahl der Kinder in Deutschland, die in Armut leben, stärker gestiegen ist als in anderen Industriestaaten.
Die Zuwanderer haben von allem Positiven die Hälfte und von allem Negativen das Doppelte hat mal die ehemalige Ausländerbeauftragte von Berlin Frau Barbara John gesagt.
Das Negative gilt vor allem für die Arbeitslosigkeit und Armut. Das Armutsrisiko von Migrantenfamilien ist deutlich höher als das der Gesamtbevölkerung. Auch bei Kinderarmut sind sie besonders betroffen.
Der Armuts- und Reichtumsbericht“ legt die zwischen den EU-Mitgliedstaaten vereinbarte Definition einer Armutsrisikoquote zugrunde. Danach gilt als arm, wem weniger als 60% des mittleren Netto-Einkommens zur Verfügung stehen. In Deutschland liegt die Armutsrisikogrenze bei 938 Euro pro Monat. Das allgemeine Risiko, von Armut betroffen zu sein, ist zwischen 1998 und 2003 von 12,1% auf 13,5% gestiegen, so der Bericht.
Die Hauptursache von Armut und sozialer Ausgrenzung sieht der Bericht in der hohen Arbeitslosigkeit. Daher kämen Beschäftigung und Wirtschaftswachstum bei der Überwindung der Armut besondere Bedeutung zu. Der Bericht ist mit dem Titel Lebenslagen in Deutschland“ überschrieben und berücksichtigt neben der Verteilung materieller Ressourcen auch die Teilhabe- und Verwirklichungschancen der Bevölkerung in Bereichen wie Bildung, Ausbildung, Erwerbstätigkeit und Gesundheit – die so genannten individuellen und kollektiven Lebenslagen.
Die Daten belegen ein wachsendes Armutsrisiko bei Migranten. Es ist zwischen 1998 und 2003 von 19,6% auf 24% gestiegen und liegt weiterhin deutlich über der Armutsrisikoquote der Gesamtbevölkerung. Der Anstieg sei maßgeblich auf die im Jahr 2004 fast doppelt so hohe Arbeitslosenquote der ausländischen Bevölkerung (20,4%) im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (11,7%) zurückzuführen. Zwischenzeitlich war diese Quote von 20,3% im Jahr 1998 auf 17,4% im Jahr 2001 gesunken, danach jedoch erneut angestiegen.
Primäre Ursache dafür, dass Migranten häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen sind, seien vor allem die Defizite in der sprachlichen Kompetenz und der schulischen sowie beruflichen Qualifikation. Die Bestimmungen des Ausländerrechts sind zweifelsohne benachteiligend, die in zahlreichen Bereichen einen Inländervorrang festlegen (Arbeitsförderungsgesetz etc.). Benachteiligend sind auch die massiven Vorurteile und Diskriminierungsbarrieren, auf die Migranten beim Zugang zu Arbeitsplätzen, Ausbildungsplätzen, angemessenen Wohnungen, Kindergärten etc. stoßen.
Der größte Anstieg von Kinderarmut in der Bundesrepublik ist bei Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund zu verzeichnen. In den 1990er Jahren verdreifachte sich der Anteil armer Kinder in dieser Bevölkerungsgruppe von rund 5% auf 15%. Dieser Anstieg lag weit über dem Durchschnitt und trug maßgeblich zum Gesamtanstieg der Kinderarmut in Deutschland bei. Kinder ausländischer Herkunft weisen deutlich schlechtere Bildungsabschlüsse auf und haben daher ungünstigere Ausgangsbedingungen auf dem Arbeitsmarkt als Deutsche. Auch die Ausbildungsbeteiligung bleibt dementsprechend geringer.
Der Bericht geht neben der Arbeitsmarktlage auch auf die Bereiche Gesundheit und Wohnumfeld ein: In Bezug auf die gesundheitliche Situation von Migranten, so der Bericht, kann man trotz der sozialen Nachteile und migrationsspezifischer Belastungen nicht generell von einem schlechteren Gesundheitszustand ausgehen. Zuwanderer würden jedoch durch präventive Angebote deutlich weniger erreicht als die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Allerdings seien ausländische Arbeitnehmer im Durchschnitt häufiger und länger krank. Dagegen scheint sich die Wohnsituation von Familien mit Migrationshintergrund positiv zu entwickeln. Im Jahr 2000 war eine wesentlich größere Anzahl von Zuwandererfamilien mit ihren persönlichen Wohnverhältnissen zufrieden als noch 1998.
An dieser Stelle eine wichtige Klarstellung: Die Migranten sind natürlich keine homogene Gruppe. Sie unterscheiden sich nicht nur nach Herkunftsländern, ausländerrechtlichem Status, Aufenthaltsdauer, Alter, Geschlecht etc., sondern erheblich auch nach ihren Lebenslagen. Es gibt Professoren, Ärzte, Ingenieure, Unternehmer mit Migrationhintergrund in steigender Zahl. Ihre Lebenslagen sind nicht vergleichbar mit der Lebenslage arbeitsloser Migranten oder mit dem ursprünglichen Prototyp von männlichen Industriearbeitern. Aus diesem Grund sollte man die Armut von Migranten als Bestandteil der zunehmenden Sozialspaltung zwischen arm und reich in Deutschland verstehen. Strategien zur Überwindung sozialer Ausgrenzung müssen alle sozial benachteiligten Gruppen beachten, allerdings auch die jeweiligen Besonderheiten der einzelnen Armutsgruppen.
Fazit ist, dass die Armuts- und Unterversorgungsrisiken in den Bereichen Arbeitslosigkeit, Einkommen, Wohnen und Bildung bei keiner anderen Gruppe derart so hoch sind wie bei den überwiegenden Migrantenfamilien. Die kumulative Armut, d.h. die Unterversorgung in mehreren Lebensbereichen ist bei Migrantenhaushalten vier mal höher als bei westdeutschen Haushalten. Fünfzig jährige Einwanderungsrealität in Deutschland hat nicht viel daran geändert, dass die dauehaft in Deutschland lebenden Migranten und ihre Kinder nicht nur politisch und rechtlich, sondern auch ökonomisch und sozial zu den am meisten benachteiligten und ausgegrenzten Gruppen gehören.
Folgen der Armut sind nicht nur als Mangel an Einkommen, sondern auch als Minderung von Lebensperspektiven zu begreifen. Der Mangel an Geld, sozialen Beziehungen, Freizeitchancen, angemessenem Wohnraum u.a., häufig begleitet von Verschuldung oder Überschuldung und sozialem Abstieg, ist nicht selten Ausdruck einer länger anhaltenden krisenhaften Situation, die oft zu ernsten Belastungen und Spannungen in der Familie führt. Betroffene Kinder sind solchen Belastungen und Spannungen häufig längere Zeit ausgesetzt. Hierdurch werden sie für ihr ganzes Leben geprägt. Psychosoziale Folgen können schließlich zu Armutskarrieren führen. Somit vererben sich die Armutsrisiken und soziale Benachteiligungen der ersten Gastarbeitergeneration auf ihre Kinder.
Was muss sich ändern, um den MigrantInnen und ihren Kindern annähernd gleiche Lebenschancen wie die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft zu bieten?
Wir brauchen dringend ein umfassendes Konzept zur Herstellung sozialer Chancengleichheit bei gleichzeitigem Respekt und Förderung ethnischer Vielfalt und kultureller Autonomie. Sozialpolitisch bedeutet dies die Entwicklung von positiven Maßnahmen, Projekten und Programmen für Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer und ältere Menschen. Dies schließt Quotenregelung z.B. beim Zugang zum Arbeits-, Ausbildungs- und Wohnungsmarkt ein, ohne dass dies freilich zu Lasten anderer benachteiligter Minderheiten geschehen darf. Die vermutlich schwierigste und wichtigste Aufgabe ist und bleibt aber die Verankerung eines multikulturellen Problembewusstseins in der Politik, Verwaltung, Mehrheitsgesellschaft, in allen Institutionen, bei den MigrantInnen selbst und im Alltagsleben.