Die Titelseite des größten Wochenmagazins SPIEGEL vom 14.April 1997 lautete: Gefährlich fremd. Der Untertitel: Ausländer und Deutsche – Das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft. Seitdem ist in der politischen Szene folgender Trend zu beobachten: Aus der Debatte um die multikulturelle Gesellschaft wird immer wieder versucht, eine Debatte über Ausländerkriminalität zu machen.
Es ist auch festzuhalten, daß immer mehr Leute sich von einer multikulturellen Gesellschaft verabschieden. Mit der oben zitierten Titelseite des SPIEGELS wurde folgendes Bild gemalt: Die multikulturelle Gesellschaft ist gescheitert und das Fremde ist sehr gefährlich geworden. Folgerichtig muß man sich entweder vor den Fremden schützen oder man muß sie rausschmeißen. Als neues Paradigma diente dazu die These vom Kampf der Kulturen. Dieser Kampf der Kulturen geht auf die Theorie Samuel Huntingtons zurück.
Huntingtons Argumentation lautet: Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung teilt sich die Welt in sieben oder acht Hauptkulturen auf. Konflikte würden in Zukunft nicht mehr entlang der entgegengesetzter Ideologien oder wirtschaftlichen Machtkämpfe, sondern entlang der Unvereinbarkeit von Wertesystemen und Religionen der verschiedenen Kulturen entstehen. Als besondere Gefahr für die westliche Zivilisation sollte man die islamische und chinesisch-konfuzianische Kultur betrachten. Als Lösung empfiehlt Huntington, sich nicht mehr in Konflikte anderer Kulturkreise einzumischen und die eigene kulturelle, religiöse Homogenität gegen Angriffe von außen zu stärken.
In dem SPIEGEL-Aufsatz läßt sich diese Argumentationslogik exemplarisch sehr leicht wieder erkennen. Als Begründung für das Scheitern (?!) der multikulturellen Gesellschaft werden ausschließlich kriminalstatistische Zahlen von ausländischen Jugendlichen angeführt und diese im Sinne einer angeblich drohenden Gefahr als Zeitbomben (gemeint sind türkische Jugendliche ohne Ausbildungsplatz und Job; albanische Zuhältergangs; vietnamesische Zigarettenschmuggler; russische Mafia; militante Islamisten; Aussiedler-Kinder usw.) bezeichnet!
Ohne mich in diesem Aufsatz mit Huntington eingehender auseinanderzusetzen, will ich mich auf das Kernthema Kriminalität unter ausländischen Jugendlichen konzentrieren, mitdem das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft zu begründen versucht wird, und und auf wesentliche Aspekte ihrer Erklärungs-und Lösungsansätze hinweisen:
Die Kriminalitätsbelastung der ausländischen Jugendlichen wird generell und überall als ein wachsendes soziales Problem betrachtet. Dies führt bei vielen Menschen zu Unsicherheit und Ängsten. Die entscheidende Frage ist, wie man mit diesen Ängsten und Unsicherheiten umgeht. Verschiedene Interessengruppen versuchen diese negativen Gefühle für ihre Belange zu nutzen, indem sie sich auf statistisches Material beziehen, das eine zwei bis dreimal so hohe Kriminalitätsbelastung der ausländischen Jugendlichen gegenüber ihren deutschen Altersgenossen zeigt. In diesem Zusammenhang sollten folgende Fragen beantwortet werden:
Unterscheiden sich ausländische Jugendliche wirklich bezüglich ihrer Delikte von deutschen Jugendlichen?
Was sind mögliche Ursachen für das abweichende Verhalten ausländischer Heranwachsender und sind dafür andere Erklärungsansätze als die, die für die Deutung der Devianz deutscher Jugendlicher herangezogen werden, notwendig (wie z.B.Unvereinbarkeit der Kulturen oder Integrationsunfähigkeit bzw.-unbereitschaft)?
Wo sind Präventionen und Interventionen nötig und möglich und wie müßten sie aussehen?
Das sind m.E.die zentralen Fragestellungen. Zunächst will ich im integrationspolitischen Kontext einen Erklärungsversuch zum abweichenden Verhalten ausländischer Jugendlicher machen. Nur einen Erklärungsversuch, weil wir generell feststellen müssen, daß keine allgemein anerkannte und empirisch gut bestätigte Theorie zum abweichenden Verhalten von jugendlichen Ausländern existiert.
Wichtig ist es zu sehen, daß abweichendes Verhalten nicht monokausal erklärbar ist, sondern eine multifaktorielle Betrachtungsweise verlangt, und das gilt sowohl für deutsche als auch für ausländische Jugendliche. Es gibt viele Theorien, die abweichendes Verhalten durch verschiedene Hypothesen zu erklären versuchen. Ich möchte an dieser Stelle nur eine davon ganz kurz vorsellen, nämlich die Theorie der sozialen Kontrolle. Nach dieser Theorie ist abweichendes Verhalten von der Intensität der Bindungen eines Individuums an die Gesellschaft abhängig. Die Kernaussage dieser Theorie lautet: Das Eingebundensein in konventionelle Tätigkeiten mit all ihren Aktivitäten und Verpfichtungen erschweren Gedanken an abweichende Handlungen und deren Ausführung. Mit dieser Aussage wird die Problematik der sinnvollen Freizeitgestaltung aufgegriffen. Damit wird aber auch die überdurchschnittliche hohe Belastung junger Ausländer durch Arbeitslosigkeit angesprochen.
Was bedeutet nun diese Theorie konkret für die Lebenssituation und Alltagserfahrungen von ausländischen Jugendlichen?
Das bedeutet zunächst, es ist wichtig zu sehen, daß ausländische Jugendliche bei ihren Lebensbewältigungsstrategien oft mehreren negativen Faktoren ausgesetzt sind, nämlich, daß- ein großer Teil der ausländischen Jugendlichen aus der Unterschicht stammt und eine schlechte Schulausbildung hat. Die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen berichtet in ihrem letzten Bericht (Dez.97), daß 50 % der Jugendlichen ohne deutschen Paß keinen Ausbildungsabschluß erreichen (S.128),- sie von höheren Arbeitslosigkeit betroffen sind; An der gleichen Stelle ist zu lesen, daß der Anteil ausländischer arbeitsloser Jugendlicher unter 20 Jahren an allen Arbeitslosen dieser Altersgruppe 17,9 % beträgt,- sie ein geringes Selbstwertgefühl haben,- sie keine große Kontrollmöglichkeiten über das eigene Leben haben, d.h. daß sie ein Gefühl der Hilfslosigkeit und des Ausgelifertsseins haben,- sie u.U. sehr konfliktreiche Beziehungen zu den Eltern haben.
All diese Faktoren führen zu Verunsicherungen, die es den ausländischen Jugendlichen erschweren, eine Perspektive für ihr zukünftiges Leben in Deutschland zu entwickeln und die entsprechenden Entscheidungen zu treffen. Vor diesem Hintergrund muß zuallererst alles daran gesetzt werden, daß die Integration dieser jungen Menschen in die hiesige Gesellschaft und die Identifikation mit ihr durch die gleichberechtigte Teilhabe an den bestehenden Rechten und Pflichten noch stärker gefördert werden.
Wo sind Interventionen und Präventionen nötig und möglich?
Im folgenden will ich nur die wichtigsten anführen:
- Ein Problem, das dringend angegangen werden muß, ist die hohe Arbeitslosenquote unter den ausländischen Jugendlichen. Die bestehenden Zentren, die ein qualifiziertes und differenziertes Angebot zur Berufsvorbereitung vermitteln, müssen noch stärker gefördert werden,- Ebenso müßte die Möglichkeit geboten werden, den Schulabschluß nachholen zu können.
- Die Motivation zur Berufsvorbereitung kann aber nur dann erreicht werden, wenn der Jugendliche auch eine reelle Chance sieht, einen Arbeits-und Ausbildungsplatz zu finden.
- Es sind vor allem ausländische Kinder, die eine massive soziale Benachteiligung im Bereich der Bildung erleben. Bereits im Vorschulalter und in der Grundschule muß versucht werden, ausländische Kinder ihren Möglichkeiten entsprechend optimal zu fördern.
- Vermehrte Anstrengungen im Bereich der Bildungschancen sind sehr sinnvoll und notwendig; sie würden ausländischen Jugendlichen die Integration und Identifikation bis zu einem gewissen Grad erleichtern, denn schulische und berufliche Qualifikation kann über den Zugang zur Mehrheitsgesellschaft maßgeblich mitentscheiden.
Es läßt sich als Fazit folgendes festhalten: Es ist unmöglich, einfache Erklärungsansätze für und Patentrezepte zur Vermeidung von abweichendem Verhalten von Jugendlichen anzugeben, denn zu viele verschiedene Faktoren können zur Entstehung von abweichendem Verhalten beitragen.
Eine verstärkte Integrationspolitik und -praxis, eine verstärkte präventive Jugendarbeit und endlich eine soziale, kulturelle und politische Gleichstellung von nichtdeutschen Jugendlichen mit ausländischem Paß ist die einzig vernünftige Lösung der Jugendkriminalität.
Die ordnungspolitischen Schlußfolgerungen der These vom Kampf der Kulturen (Abschiebung, geschlossene Erziehungsheime, Herabsetzung des Nachzugsalters, strenge Kontrolle der bikulturellen Eheschließungen, Überprüfung der Aufenthaltserlaubnisse von Ausländern durch Bürger in Uniform usw.) stellen keine vernünftige und humane Alternative dar.
Eine restriktive Einwanderungs-und Integrationspolitik ist sicherlich nicht die Lösung, sondern der beste Beitrag zur Desintegration dieser komplexen Gesellschaft.